Publikation ASF17

Geschrieben von Dr. Matthias Stippich am 12.06.2017

Der folgende Text ist im ASF-Journal 17 erschienen und basiert auf dem offenen Manifest zur Schwarzwaldbaukultur, das wir für die „Hier sind wir!“-Ausstellung im Mai 2016 beigetragen hatten. Er beschreibt unsere ECHOMAR-Positionen zum Thema Schwarzwaldbaukultur. Hier der Originaltext:

 

 

WHAT THE FUCK IS SCHWARZWALDBAUKULTUR?

Dr. Matthias Stippich   |   Echomar

 

Karlsruhe besitzt ein ausgeprägtes Selbstverständnis als badische Metropole. Der Tradition der markgraf’schen Gründung als repräsentatives Zentrum von Politik, Kultur und Wirtschaft folgend, entwickelte sich über Weinbrenner, den Werkbund und Egon Eiermann ein Architekturverständnis, das sich tendenziell eher an überregionalen und internationalen Quellen orientierte als an den ländlichen Gebieten des Schwarzwaldes. Vor allem im Vergleich zu Freiburg werden diese architektonischen und städtebaulichen Referenzen erkennbar, wenn wir die Entwicklungen der Architekturszenen in der jüngeren Geschichte vergleichen. Folgt man diesem Gedankengang wird nachvollziehbar, warum sich der Südschwarzwald in seinem architektonischen Selbstverständnis lange Zeit leichter mit einem architektonischen Bezug auf die ländlichen Regionen tat.

Doch die Rahmenbedingungen ändern sich. Der ländliche Raum des Schwarzwaldes entwickelt sich seit einigen Jahren sozial, kulturell und wirtschaftlich in einer ganz eigenen Dynamik. Diese Entwicklung begann zunächst schleichend und leise, lässt sich heute aber sehr klar feststellen. Die Digitalisierung und eine internationale Perspektive bei gleichzeitig direktem lokalen Bezug brachten eine Art neue „ lokal-globale Avantgarde“ hervor, die die Weingüter, Sternerestaurants, Unternehmen und Handwerksbetriebe ihrer Eltern radikal umbauen. Die traditionelle Präzision, der Ehrgeiz und das handwerkliche Geschick werden ergänzt durch das in internationalen Ausbildungen erworbene Wissen und die Erfahrungen. Dies wiederum produziert Ergebnisse und Produkte die weltweit Anerkennung finden.

Dieser neuen Generation avantgardistischer Schwarzwälder fehlt bislang eine architektonische Entsprechung, man könnte sogar fast sagen: eine architektonische Sprache. Es ist also an der Zeit dass Karlsruhe, das KIT und der Schwarzwald sich dieser Potenziale bewusst werden. In bester Tradition des Werkbundes sollten wir eine architektonische Sprache entwickeln, die die großen technischen und kulturellen Veränderungen unserer Zeit aufgreift und zur Neuinterpretation klassischer Schwarzwälder Elemente heranzieht. Geben wir uns also aus unserer Position der routinierten und stilsicheren architektonischen Formfindung dem riskanten baukulturellen Experiment hin. Riskieren wir peinliche Fehlversuche und angreifbare Projekte. Am Ende des Prozesses können wir aber eine eigenständige Schwarzwälder Baukultur gewinnen. Als Fundament für diese Entwicklung seien folgende offenen Thesen proklamiert, die diskutiert, bestritten, wiederlegt, ergänzt oder weiterentwickelt werden können:

 

1.Wir stehen in der Tradition der merkwürdigen Revolutionäre

Die Geschichte des Schwarzwaldes ist voll von merkwürdigen Revolutionären1. Die Revolutionäre um Friedrich Hecker, Die (Kucks)Uhrenbauer um Junghans, die „Hidden Champions“2 genannten Spartenweltmarktführer aus dem Nordschwarzwald, die international regionalen Künstler um Stefan Strumbel und Jochen Scherzinger: Sie alle sind ungeheuer innovativ und international erfolgreich, beziehen sich aber sehr explizit auf lokale Schwarzwaldelemente. Wir Architekten sollten uns diese Methoden zu Nutze machen.

 

2. Ihr habt die falschen Bilder im Kopf

Die überregionale Ikonografie des Schwarzwaldes ist leider bis heute geprägt von dem Bild, das die Heimatfilme der 1950er und 1960er Jahre von der Region vermittelten: Bollenhüte, naive Landbevölkerung, schöne Landschaften und idyllische Schwarzwaldhöfe3. Diese Ikonografien greifen in unserer Gegenwart längst nicht mehr. Die großartigen Landschaften sind heute auch der Rückzugsraum für global agierende Unternehmen und bestens vernetzte Kreative4. Sie sind die Szenerie für experimentierfreudige Sternegastronomen und junge Winzer5, die global ausgebildet wurden. Ziel unserer architektonischen und stadtplanerischen Auseinandersetzung mit dem Thema muss es sein, diesem neuen sozialen Bild des Schwarzwaldes eine architektonische Entsprechung zu geben.

 

3. Paradigmenwechsel

Das Wissen und die Innovation sind traditionell in den Zentren Karlsruhe und Freiburg angesiedelt. Selbst die „merkwürdigen Revolutionäre“ mussten zur Erlangung von Wissen und zum Austausch in den Zentren agieren um ihre Ideen zu entwickeln und zu verbreiten. Die globale Mobilität, die Digitalisierung und die Vernetzung veränderten die Situation. Dezentrale Produktion, Kommunikation und Lebensweise sind bereits heute vielerorts der Status Quo. Dieser gesellschaftlich-technische Paradigmenwechsel wird begleitet von einem architektonischen und städtebaulichen6. Softwarebasierte Entwurfs- und Produktionsmethoden verändern unsere Vorstellung von Raum und Raumproduktion7. Parametrische Design- und Produktionswerkzeuge erzeugen immer komplexere Geometrien und Produktionsmethoden (vgl. Achim Menges/ICD Stuttgart). Digitale Netze und ein Social-Media-basiertes Demokratieverständnis ermöglichen völlig neue Formen der Partizipation der Dorf- und Stadtbewohner, wenn es um die Gestaltung ihrer Umwelt geht. Diese Entwicklungen sind so irreversibel wie großartig.

 

4. Die regionale Identität ist der analoge Anker der digital Natives

Wir erleben bereits seit geraumer Zeit eine Renaissance der Regionen. Vor allem Regionen mit sehr ausgeprägten kulturellen Merkmalen wie etwa Graubünden, Vorarlberg, Südtirol oder auch Hamburg entdeckten die Regionalität in den letzten Jahren neu. Nun könnte man in Anbetracht der sehr bedenklichen politisch/gesellschaftlichen Entwicklungen der jüngsten Zeit (Lokal)Patriotismus, Heimattümelei sowie Ab- und Ausgrenzung wittern, aber das wäre falsch. Ich würde die These unterstützen, dass die durch die Digitalisierung und Vernetzung erzeugte globale Lebensweise einen analogen lokalen Anker braucht8. Wer aus einer offenen lokalen Identität heraus operiert, ist auch frei genug sich auf Experimente einzulassen. Die regionale Identität ist der analoge Anker der Digital Natives. Local body – global eye.

 

5. Eine neue Schwarzwaldbaukultur?

Die in These 3 beschriebenen Veränderungen in der Architektur- und Stadtproduktion sind verführerisch. Es besteht die große Gefahr, dass aus den mächtigen digitalen Werkzeugen Architekturen entstehen, die zwar aus sich heraus eine große Komplexität und auch Poesie (vgl. „Autopoesie“ bei Schumacher4) schöpfen, in ihrem Kontextbezug und ihrer Produktionsweise jedoch völlig austauschbar sind.

Im Schwarzwald haben wir eine sehr reiche Tradition an Bau- und Kulturtechniken die die Region bis heute prägen9. Ziel einer eigenständigen Schwarzwaldbaukultur sollte es daher sein, diese regionalspezifischen Eigenschaften und Techniken mit den globalen Architekturtrends zu vereinigen um so eine Architektur zu schaffen, die Ortsspezifität und technisch-methodische Innovation zusammenführt. Natürlich gibt es eine Reihe von kulturellen Rahmenbedingungen die diese Entwicklung flankieren müssen, um eine dauerhafte gesellschaftliche Grundlage für eine eigenständige Baukultur zu legen10. Sollte die Synergie aus handwerklichem Können und architektonischer Interpretationsfähigkeit tatsächlich gelingen, könnte – ergänzt durch digitale Werkzeuge ­– eine Sprache entstehen die noch prägnanter und interpretativer ist als die Vorarlberger Architektur der 1990er Jahre oder die zeitgenössische Schweizer Architektur.

 

6. Wir brauchen neue Methoden, Prozesse, Selbstverständnisse!

Um die dargestellten Ziele zu erreichen müssen wir unsere Methoden und Prozesse anpassen und unser Selbstverständnis überdenken. Die Anpassung an die technischen Standards der Digitalisierung von Grashopper über BIM bis zum Rapid Prototyping ist vermutlich der kleinste Schritt und findet bereits in der Breite statt. Schwieriger scheint es da, unsere Entwurfs-, Planungs- und Umsetzungsmethoden umzubauen. Die versierte Neuinterpretation von klassischen Bau- und Kulturtechniken setzt natürlich die Kenntnis derselben vorraus. Das intensive Eindenken in einen Kontext braucht ebenso Zeit wie der intellektuell sehr aufwendige Prozess des vielschichtigen Interpretierens. Diese Zeit wird vor allem in einer Phase in der sehr viel gebaut wird den Architekten selten eingeräumt, die Wertschätzung der so entwickelten Projekte kommt außerhalb der Architektenschaft oft zu kurz. Dennoch scheint sich das Selbstverständnis vor allem der jüngeren Generation der Architekten zu verändern. Die Befreiung von stilistischen Paradigmen in Kombination mit dem Wunsch nach neuen Narrativen und der nötigen Kenntniss der Werkzeuge scheint ein tragfähiges Fundament für einen neue Schwarzwälder Baukultur zu sein.

 

In diesem Punkt entsprechen die jungen Architekten dann vielleicht doch wieder der Eingangs beschriebenen „global-lokalen Avantgarde“ des Schwarzwaldes: lokal verwurzelt, global ausgebildet, handwerklich geschickt, mit großem Ehrgeiz, globalem Wissen und neuen Werkzeugen entstehen so Experimente die uns zum Austritt aus unserer baukulturellen Komfortzone bewegen. Denn wenn man Architektur und Stadt als Abbild der Gesellschaft versteht, so ist es die Aufgabe der digitalen und vernetzten jungen Architekten, die lokal verwurzelt ist und global denkt, ihrer Generation ein architektonisches Abbild zu geben. Riskieren wir also ein ambitioniertes Experiment: entwickeln wir eine neue – eine eigenständige – Schwarzwälder Architektursprache.

 
 
Quellen:
1 Frei, A.; Hochstuhl, K.: „Wegbereiter der Demokratie. Die badische Revolution 1848/49. Der Traum von der Freiheit“ Verlag G.
2 Hermann, S.: “Die unbekannten Weltmarktführer” in “Badische Zeitung” am 1.10.2015
3 Deppe, H.: Film „Schwarzwaldmädel“; 1950
4 Lück, O.: “Mein Gott ist das schön hier” in “Spiegel”Ausgabe 18/2011
5 Waldherr, G.: “Drei Strene für ein Hallelujah” in “Brandeins” Ausgabe 10/2010
Braun; Karlsruhe; 1997
6 Bullinger, H.-J.; & Röthlein, B.: “Morgenstadt”; Carl Hanser Verlag; München; 2012
7 Schumacher, P.: “The Autopoesis of Architecture”; London: John Wiley & Sons Ltd.; London; 2011
8 Haustein, L.: „Global Icons: Globale Bildinszenierung und kulturelle Identität“; Wallenstein; Göttingen; 2008
9 Huth, S.: “Wie der Schwarzwald erfunden wurde“; Silberburg Verlag; Tübingen; 2015
10 Fischer, U.: “Regionalistische Strategien in der Architektur Graubündens: von 1900 bis in die Gegenwart“; Wasmuth Verlag; Tübingen; 2016

Posted on 12. Juni 2017 in Architektur, Black Forest Baukultur, Digital, Forschung

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About the Author

Matthias liebt komplexe Zusammenhänge und innovative Konzepte. Seine Aufgabe ist die strategische Entwicklung von Echomar und die Vernetzung zur universitären Forschung und Lehre. Er interpretiert sowohl in der Stadtentwicklung wie auch im architektonischen Entwurf traditionelle Elemente radikal neu.
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